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Corona-Debatte: So können wir Hass und Spaltung trotzen und wieder zueinanderfinden

Eine fantastische Rede von Philine Conrad. Vielen Dank an die Berliner Zeitung, dass dieser Text veröffentlicht wurde. Der Text beschreibt eindrucksvoll, in welche menschlichen Abgründe die Politiker, die Medien und Teile der Gesellschaft abgerutscht sind.


Aus der Berliner Zeitung | 30.07.2023 | Philine Conrad


Drei Jahre lang wurde auch unsere Autorin als „Leugner“ und „Muffel“ bezeichnet. Sie fragt sich nun, wie diese traumatisierte Gesellschaft wieder zusammenwachsen kann.


Am 18. Juli 2023 fand im Festsaal des Erfurter Rathauses die Disputation „Kirche und Kultur nach Corona. Analyse, Debatte und Konsequenzen“ statt. Philine Conrad schilderte in ihrer Rede, wie die Pandemie und der Umgang damit ihr Leben und unsere Gesellschaft geprägt haben: „Welche besondere Erfahrung, Einsicht, Begebenheit während der ‚Corona-Jahre‘ Anfang 2020 bis Anfang 2023 hat Sie mit großer Kraft und Intensität a) in persönlicher/privater und b) in beruflicher/dienstlicher Hinsicht bewegt, beschäftigt, beeinflusst?“


Ihr Eröffnungsplädoyer im Wortlaut.

Ich freue mich, dass ich zu dieser Gelegenheit eingeladen wurde und hier sprechen darf. Vielen Dank! Mein Thema ist die Kunst, die Kultur, das verbindende Element der Gesellschaft, das Tor zu Emotionen, Gefühlen, gesellschaftlicher und persönlicher Reflexion, Auseinandersetzung, Lebendigkeit, Muße und Hingabe – zusammengefasst: das Leben.


Ich möchte mich einmal vorstellen: Ich bin ein „Blinddarm“. Ein „Leugner“. Ein „Nazi“ – „rechts“, „unsolidarisch“ und „egoistisch“. Ich bin „dumm“, ein „Aasgeier“ und „Verweigerer“. Und ich bitte um Verständnis, ich unterscheide nicht mit Sternchen zwischen Aasgeiern und Aasgeierinnen. Das Geschlecht spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle. Ich bin eine „dumme Sau“, „zu kennzeichnen“ und soll „Sticker tragen“. Ich bin ein „Gefährder“, ein „Mörder“ und ein „Todesengel“. Ich bin ein „Gegner“. Gegen was? Ich bin ein „Muffel“. Eine „dunkle Gestalt“. Und soll „in einem Loch verschwinden, aus dem ich rausgekrochen bin“. Ich bin ein „Sozialschädling“. Und „bekloppt“. Sie kennen die Gründe für diese Bezeichnungen.


Guten Abend. Da bin ich. Und mit Ihnen zusammen in einem Raum. Das finde ich wunderbar. Denn das war lange Zeit nicht möglich. Ich durfte nicht rein. Dabei spreche und diskutiere ich gerne und tausche mich mit Neugier mit anderen aus. Dass das nicht ging, war ernüchternd, isolierend und schade. Nein, ich denke nicht, dass wir uns zurück in eine Freiheit geimpft haben (Jens). Im Gegenteil. Ich persönlich spüre eine Enge, Scheren im Kopf, verschlossene Herzen und die Eigenermächtigung, auf der richtigen Seite zu stehen. Man hat uns getrennt. 60 Millionen gegen 20 Millionen. Drei viertel gegen ein viertel. Und das geht über das Thema Corona hinaus. Es ist ein Brennglas der aktuellen Zeit. Die Themen tauschen sich aus. Doch ich möchte Sie fragen: Haben Sie nicht auch den Eindruck, irgendetwas stimmt nicht in unserem Land? Irgendetwas läuft gerade verdammt schief.

 

ZUR AUTORIN

Philine Conrad ist Schauspielerin, Schriftstellerin und Malerin. Geboren in Köln entdeckt sie 2010 das Theater an der Studiobühne Köln. Nach Abschluss ihres Studiums zu Geheimdiensten, Whistleblowern und Wikileaks zieht sie 2012 nach Berlin, spielt am Maxim Gorki Theater, am Hebbel am Ufer und im Heimathafen Neukölln. 2014 beginnt sie mit dem Schreiben und eine Schauspielausbildung, die sie 2016 abschließt. Seit 2017 schreibt sie Theaterstücke, Hörspiele, Drehbücher und für verschiedene Magazine. Von 2015 bis 2018 spielt sie an verschiedenen Theatern in Köln und Berlin, ihr Stück „Lulla-Bye for a Mother“ gewinnt 2019 den Literaturpreis Nordost, und 2020 wird ihr Hörspiel „Das Geschenk“ vom WDR produziert. 2021 gründet sie die Künstlerinitiative Kunst ist Leben und produziert 2022 das Hörspiel „Geistige Gefangenschaft“. www.philineconrad.com

Foto: Niklas Berg

 

Aber hier geht es nicht um mich. Hier geht es um die Gesellschaft. Das Miteinander. Und wie wir miteinander umgehen. Vor allem aber geht es um die Kunst – als Spiegel der Gesellschaft. Sie sollte hinweisen und warnen, wenn sich eine Gemeinschaft voneinander entfernt. Doch sie war still. Das Schweigen war lauter als die Schreie der gebärenden Frauen unter FFP2-Masken. Das Schweigen war lauter, als die hungernden Menschen auf den Straßen, die vor verschlossenen Essensausgaben standen. Das Schweigen war lauter als die Warteschlangen an kalten Regentagen vor den Krankenhäusern oder die Menschen, die im Winter zu Gottesdiensten vor den Kirchen auf kalten Steinen knieten. Das Schweigen war lauter als die Unruhe der Kinder, die im Kölner Dom auf ihre Spritze warteten. Das Schweigen war lauter als die Rufe der Menschen, die alleine hinter Plexiglas in ihren Betten starben. Möglicherweise fühlen Sie bereits jetzt eine starke Ablehnung gegenüber meiner Worte. Das ist in Ordnung. Ich bin nicht gekommen, um zu gefallen. Und auch nicht für Applaus. Ich bin gekommen, weil mir unsere Gesellschaft seit drei Jahren verdammt wichtig geworden ist. Vor allem, wenn uns Unmenschlichkeit als „neue Normalität“ proklamiert wird.


Ich empfinde Traurigkeit und Mitgefühl. Für unser gesamtes Land. Für beide Länder, die wir einmal waren. Es zeigen sich Unterschiede. Der politische Geist ist aktiv. In einigen Teilen mehr als in anderen. Ich habe Mitgefühl, denn wir sind ein traumatisiertes Volk. Eine traumatisierte Gesellschaft. Und das haben die letzten Jahre, Monate und Wochen gezeigt. Wir tragen Hass, Abwertung und Arroganz in uns. Das ist schmerzhaft zu beobachten.


Sie bemerken, mein Text ist aufgeladen. Ich möchte nicht polarisieren. Es geschieht von ganz allein, indem ich benenne, dass etwas falsch läuft in unserem Land. Natürlich ist das meine Ansicht. Sie dürfen gerne eine andere haben. Doch meine bekommen Sie nicht. Und ich werde Sie auch nicht ändern, wenn sie Ihnen missfällt.


Ich bin verwundert und irritiert über unsere Gesellschaft und was sie gezeigt hat die letzten drei Jahre. Nicht, dass diese Dinge geschehen sind. Sondern dass dazu geschwiegen und gegen andere Auffassungen gehetzt, verleumdet und verachtet wurde. Dass Grundwerte und Überzeugungen verletzt werden. Dass Worte und Taten nicht zusammenpassen.


Was aber hilft uns, wieder Unterhaltungen zu führen – Sie wissen schon: Zwei Menschen tauschen sich aus, jeder mit einer eigenen Haltung. Eine Unter-Haltung. Wie finden wir wieder zueinander? Ich denke: Musik, Konzerte, Theater, Filme, Tanz – das, was über ein Jahr verboten war, bis heute eingeschränkt ist und wir unseren Beruf nicht mehr ausüben konnten, teilweise bis heute nicht können: gemeinsames Erleben mit unbekannten Menschen in einem Raum. Kurzum: Nähe. Das Eintauchen in tiefere Sphären des Bewusstseins. Begreifen, dass man ohneeinander nicht kann, und es ein „Ohneeinander“ nicht geben wird.


Und das geht nicht per Videostream. Ich freue mich jedenfalls, jeden Einzelnen von Ihnen hier zu sehen. Jedes einzelne, offene, neugierige und wissbegierige Gesicht. Das ist Schönheit. Das ist Leben. Und vielleicht gibt es ja den einen oder anderen hier, der sich von meinen Worten sogar angesprochen fühlt. Ich freue mich auf das Gespräch.

 

Das ist ein Beitrag, der im Rahmen unserer Open-Source-Initiative eingereicht wurde. Mit Open Source gibt der Berliner Verlag freien Autorinnen und Autoren sowie jedem Interessierten die Möglichkeit, Texte mit inhaltlicher Relevanz und professionellen Qualitätsstandards anzubieten. Ausgewählte Beiträge werden veröffentlicht und honoriert.


Dieser Beitrag unterliegt der Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nicht kommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

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